Rede
vor dem Bundestag am 11.11.99 zum Thema
"Lebenssituation
von Seniorinnen und Senioren in der
Bundesrepublik
Deutschland" -Beantwortung einer Großen
Anfrage der
Oppositionsfraktionen
Herr Präsident/Frau Präsidentin,
liebe Kolleginnen und Kollegen,
verehrte Gäste!
Die Große Anfrage der größten
Oppositionsfraktion im Bundestag
dokumentiert ein breites Interesse an der
Situation der älteren Menschen
bei uns: es wird nach der Alters- und Vermögensstruktur,
nach Aktivitäten
und Engagement, nach Hilfs- und Pflegebedürftigkeit,
der Wohnsituation
von Älteren, Gewalt gegen Ältere,
nach „Altern in der Fremde“ und
Alternsforschung gefragt.
Diese Anfrage ist erfreulich, weil sie uns
Gelegenheit gibt, Stellung zu
nehmen zu den entscheidenden Fragen der
Altenpolitik:
- Welchen Stellenwert haben Ältere
in unserer Gesellschaft?
- Wie sind die Lebensbedingungen für
ältere Menschen in unserem Land, wie
haben sich diese Bedingungen
entwickelt und wie werden sie sich aller Vor-
aussicht nach weiterentwickeln?
- In welchen Bereichen ist politischer und
gesellschaftlicher Handlungs-
bedarf, damit „Menschenwürde
und Selbstbe-stimmung im Alter“ nicht nur
von allen verkündet, sondern
von möglichst vielen in Politik und Gesellschaft
ernst genommen und verwirklicht wird?
Die vorliegende Anfrage ist aber auch verwunderlich,
weil sie manches
offenbart:
Sie zeigt - wie Arne Fuhrmann deutlich gemacht
hat - daß ein großer Teil der
intensiven Arbeit in der Enquete-Kommission
Demographischer Wandel an den
damaligen Regierungsparteien ohne größere
Erkenntnisgewinne vorbei-
gegangen ist. Und sie zeigt, das mag für
Sie in der Opposition schwierig zu
akzeptieren sein, daß Strategien und
Handeln für eine solidarische und
zukunftsorientierte Altenpolitik während
Ihrer Regierungsjahre fehlten.
Ich will zu einigen Bereichen aus der Anfrage
aufzeigen, wo es interessante
Daten und Erkenntnisse gibt und wo dringender
Handlungsbedarf nicht erst
seit heute besteht.
Die Fragen 1 und 2 der Großen Anfrage
beziehen sich auf die demographische
Entwicklung und verlangen Auskünfte
zu Veränderungen der Altersstruktur,
mit besonderem Augenmerk für die Älteren
in unserer Bevölkerung.
Bei der Frage nach der Altersstruktur ist
aber auch für die Lebenssituation
der Älteren, das wissen die Kolleginnen
und Kollegen aus dem Demograph-
ischen Wandel, entscheidend: Wie viele junge
Menschen haben wir, und wie
entwickelt sich ihre Zahl?
Und weil die Geburtenquote bei uns und in
anderen Industrienationen
ziemlich beständig auf einem niedrigen
Niveau verharrt, können wir froh sein
über Familien mit Kindern, die zu uns
gekommen sind und kommen – sei es aus
der Türkei, aus Kasachstan oder aus
anderen Teilen der Welt; wie also ent-
wickeln sich Daten und Fakten zu Migration
und Integration in unserem Land?
Das heißt: Nicht nur Daten zur Altersstruktur
der Älteren, sondern auch
Daten zur Lebenswelt der Jungen sowie Fragen
der Wanderungsbewegungen
- Zuwanderung in unser Land, Wegziehen aus
unserem Land - und der Umgang
miteinander bestimmen die Lebenssituation
aller, insbesondere auch der
Älteren.
Ich bin froh, daß in der Enquete-Kommission
Demographischer Wandel dazu
sehr ausführlich und differenziert
recherchiert und diskutiert wurde und
damit Grundlagen für die nötigen
Schlußfolgerungen gelegt wurden; dies
wollen wir gemeinsam in politisches Handeln
umsetzen.
Zur Vermögenssituation der älteren
Menschen bei uns, insbesondere zu
Fragen der Alterssicherung, hat Kurt Bodewig
Stellung genommen; ich will
nur zwei sehr persönliche Bemerkungen
ergänzen.
- Ich bin dankbar, daß von dieser
Regierung endlich die immer weiter aus-
einander gehende Schere zwischen
Arm und Reich unter die Lupe genommen
und ein Bericht erstellt wird, der
über Armut und über Reichtum in unserem
Land Auskunft geben soll.
- Und ich freue mich, daß endlich
die große Kluft zwischen dem Einkommen
von Männern und Frauen im Alter
zumindest abgemildert werden könnte:
einmal durch die verschiedenen Modelle
für eine eigenständige Alters-
sicherung der Frauen, zum anderen
durch die geplante Grundsicherung, die
den Gang zum Sozialamt ersparen soll.
Dazu eine kleine Geschichte aus dem Alltag
einer Seniorin: Als ich vor rund
10 Jahren in einer Sozialstation auf der
Alb tätig war traf ich eine alte
Frau, die mit 90 DM im Monat lebte – im
Haus ihrer Eltern, mit einem für
das Überleben äußerst wichtigen
Garten, in den Kleidern ihrer Großmutter.
Nie wäre diese Frau zum Sozialamt gegangen!
Dies als konkretes Beispiel zu
Frage 15 und zu den Möglichkeiten,
verschämte Altersarmut zu bekämpfen.
Zu dem Fragenkomplex Aktivitäten und
Engagement der Älteren in unserer
Gesellschaft drei Anmerkungen:
- Unabhängig von der Güte der
bisherigen Daten wissen wir, daß ohne die
ehrenamtliche Mitarbeit von älteren
Menschen in Vereinen, Parteien,
Sport- und Wohlfahrtsverbänden,
Bildungs- und sozialen Einrichtungen,
Hilfsorganisationen und kirchlichen
Gruppen vieles an Ideen, Verständigung,
Hilfe, Solidarität und Menschlichkeit
fehlen würde; deswegen geht mein
Dank an alle, die sich für eine
solidarische und humane Gesellschaft ein-
setzen. Daß eine Enquete-Kommission
zur Förderung des Ehrenamts in
dieser Legislaturperiode arbeiten
wird, ist ein positives Signal, das von
diesem Parlament ausgeht.
- Daß mehr Frauen als Männer
ehrenamtlich aktiv sind, ist nicht über-
raschend; längst ist bekannt,
daß Frauen stärker beteiligt sind an der
unbezahlten Arbeit und weit weniger
an der bezahlten Arbeit – eine der
Ursachen für die geringere Absicherung
im Alter. Eine gerechtere Ver-
teilung von bezahlter und unbezahlter
Arbeit ist eine der uralten
Forderungen von uns Frauen in der
SPD.
- Eine interessante Information ist in der
Antwort auf Frage 55 enthalten:
in einer Studie der Universität
Erlangen-Nürnberg im Rahmen des
Forschungsprojekts „Möglichkeiten
und Grenzen selbständiger Lebens-
führung in privaten Haushalten“
wurde festgestellt, daß es deutliche Unter-
schiede zwischen alten und neuen
Bundesländern gab in der Beteiligung von
Frauen und Männern bei der häuslichen
Pflege von Angehörigen – in den öst-
lichen Bundesländern beteiligten
sich signifikant mehr Männer als in den
westlichen. Dafür gibt es sicher
viele Gründe, unter anderem die höhere
Arbeitslosigkeit – trotzdem empfinde
ich diese höhere Beteiligung von
Männern an der häuslichen
Pflege als kleines Signal in die vorher
beschriebene Richtung.
Damit bin ich beim nächsten Bereich,
der Hilfs- und Pflegebedürftigkeit
im Alter.
- Es fällt auf, daß sehr viel
an Daten zur Pflegeversicherung abgefragt wird–
Pflegesätze, Entgelte und monatliche
Differenzen. Sicher ist eine genügende
finanzielle Ausstattung für
Pflegebedürftige, Pflegende und die nötigen
Institutionen eine Grundvoraussetzung
für ein menschenwürdiges Leben und
Arbeiten; aber die Finanzen allein
machen noch keine menschenwürdige
Betreuung und Pflege aus. Über
die Bedürfnisse und die Lebensqualität der
zu Betreuenden habe ich keine Frage
gesehen.
- Die Fragen zu Demenzerkrankungen sind
insofern interessant als sie noch-
mals auf die Große Anfrage
meiner Fraktion in der letzten Legislatur-
periode zur Situation von Demenzkranken
in der Bundesrepublik hinweisen.
Positiv ist, daß es Untersuchungen
und Forschungsprojekte auch bei uns in
Deutschland zum Thema Demenzerkrankungen
gibt und daß sowohl Grund-
lagen - wie auch Versorgungsforschung
„einen hohen Stellenwert haben“
(Antwort zu Frage 64).
- Auch die Tatsache, daß es immer
mehr Selbsthilfegruppen für Angehörige
von Alzheimerkranken gibt und daß
inzwischen verschiedene Institutionen
und Verbände speziell für
Demenzkranke und ihre Angehörigen da sind, ist
sehr erfreulich.
- Entscheidend für die Qualität
von Pflege und Betreuung ist, daß Pflegende
kompetent sind für ihre Arbeit
mit Menschen: Qualifikation ist nötig für
Qualität - deshalb werbe ich,
wie vor 6 Wochen bei der Debatte zur Alten-
pflegeausbildung, für eine bundeseinheitliche
Regelung dieser Ausbildung
auf einem hohen Niveau und für
gute Rahmenbedingungen bei dieser
anspruchsvollen und oft schwierigen
Arbeit. Ich wünsche mir, daß wir dies
gemeinsam – trotz aller nachvollziehbaren
Kritik - für alle Betroffenen
zufriedenstellend verwirklichen können.
Ein vielfach tabuisierter Bereich ist angesprochen
in den Fragen zu Gewalt
gegen ältere Menschen: Fragen zu Gewalt
gegen Ältere im öffentlichen Raum,
aber auch im sozialen Nahraum, zum subjektiven
Sicherheitsgefühl und zu
Gewalt in stationären Einrichtungen.
Dies alles zu erforschen und Maßnahmen
zu Prävention und Intervention
zu ergreifen, ist außerordentlich
wichtig im Hinblick auf Menschen in jedem
Alter – allen voran aber für diejenigen,
die besonderen Schutz und Hilfe
brauchen, weil sie sich nicht selbst wehren
können. Was ich allerdings nicht
verstehe ist, warum Sie von der heutigen
Opposition unseren Antrag „Gewalt
gegen Ältere – Prävention und
Intervention“ im Jahr 1996 abgelehnt haben,
wenn Ihnen das Thema so wichtig ist!
Es freut mich, daß es Initiativen
für Forschungsarbeiten und für Möglich-
keiten der konkreten Hilfe jetzt auch bei
uns gibt, zum Beispiel das Bonner
Projekt „Handeln statt Mißhandeln“.
Weitere Städte haben ähnliche
Angebote; Erfahrungen aus dem Ausland sind
dabei hilfreich.
Wichtig ist für uns alle auch die Situation
von älteren ausländischen Mit-
bürgerinnen und Mitbürgern – sie
sind die am stärksten wachsende Gruppe in
unserer Bevölkerung. Ich freue mich
über die Fragen dazu, zum Beispiel über
etwaige Integrationshemmnisse und besondere
Integrationsmaßnahmen
(Fragen 104 und 105).
Es fehlt mir allerdings der Glaube an die
Ernsthaftigkeit dieser Fragen,
nachdem wir uns in der Enquete-Kommission
Demographischer Wandel rund
drei Jahre lang in der Arbeitsgruppe Migration/Integration
mit der
Situation von ausländischen Mitbürgerinnen
und Mitbürgern, besonders von
Kindern, Familien und Älteren, befaßt
haben und über Integrations-
hemmnisse und Integrationsmöglichkeiten
ausführlich diskutiert haben –
siehe Kapitel VII des zweiten Zwischenberichts
der Enquete-Kommission.
Der Glaube fehlt mir vor allem deshalb,
weil während dieser Arbeit der eine
Teil aus Ihrer Fraktion bei vielen Sitzungen
nicht vertreten war und der
andere Teil aus der Fraktion, der die Bezeichnung
„christlich-sozial“ im
Namen trägt, sich hervorgetan hat durch
vielfältige Bedenken und möglichst
hohe Hürden auf dem Weg zu mehr Integration.
Ich schließe mit einer zweiten kurzen
Begebenheit:
Herr K. in der Gerontopsychiatrie, den ich
oft und gern zitiere, schreit,
spuckt, schlägt um sich. Irgendwann
sitze ich neben ihm und frage, warum er
so schreit. Seine Antwort, knapp und deutlich:
„Damit ich weiß, daß ich noch
am Leben bin.“
Ich danke Ihnen.
Zur Debatte der Großen Anfrage der
Fraktion der CDU/CSU zum
Thema „Lebenssituation der Seniorinnen
und Senioren in der
Bundesrepublik Deutschland“ am 11. Noember
1999 erklärt
Christa Lörcher, Mitglied im Ausschuß
Familie, Senioren, Frauen
und Jugend:
Wir freuen uns, daß die Situation von
älteren Menschen bei uns jetzt auch
das Interesse der früheren Regierungsparteien
findet: die Große Anfrage
der CDU/CSU zur Lebenssituation der Älteren
und die Antwort der
Bundesregierung dazu (Drucksache 14/1717)
enthält Informationen zur
Alters- und Vermögensstruktur, zu Aktivitäten
und Engagement von Älteren,
Hilfs- und Pflegebedürftigkeit, Gewalt
gegen Ältere,
„Altern in der Fremde“ und zu Alternsforschung.
Die Änderungen in der Bevölkerungsentwicklung
und –struktur sind
ausführlich von der Enquete-Kommission
Demographischer Wandel in der
letzten Legislaturperiode untersucht und
dargestellt worden, ebenso auch
vielfältige Modelle der Alterssicherung
unter Berücksichtigung der demo-
graphischen Veränderungen. Leider konnten
im letzten Jahr aus den
Erkenntnissen der Enquete-Kommission keine
politischen Schlußfolgerungen
gezogen werden, weil dies von der damaligen
Regierung nicht gewollt war.
Das wird jetzt nachgeholt: die Enquete-Kommission
wird wieder
eingesetzt, Expertisen und das umfangreiche
statistische Material werden
ausgewertet und Schlußfolgerungen
für das politische Handeln – hoffentlich
in großer Gemeinsamkeit – erarbeitet.
Handlungsbedarf besteht nicht nur in den
klassischen Bereichen Alters-
sicherung und Krankenversicherung, sondern
auch für die Stärkung des
ehrenamtlichen Engagements, Verbesserungen
für Pflegebedürftige zuhause
und in Einrichtungen, bestmögliche
Qualifikation und gute Rahmenbedingungen
für die Pflegenden; dies alles sind
Aufgaben für politisches Engagement in
dieser Legislaturperiode.
Handlungsbedarf besteht vor allem auch in
dem weitgehend tabuisierten
Bereich „Gewalt gegen Ältere“, zu dem
die SPD-Fraktion schon 1996 einen
Antrag eingebracht hat, der leider damals
keine Chance hatte.
Ebenfalls politisches und gesellschaftliches
Handeln ist nötig für eine Ver-
besserung der Situation älterer Migrantinnen
und Migranten - die am
stärksten wachsende Gruppe in unserer
Bevölkerung. Die Enquete-Kommission
Demographischer Wandel hat dazu gründlich
recherchiert und diskutiert;
Ergebnisse und Vorschläge finden sich
im Kapitel „Migration und Integration“
des zweiten Zwischenberichts der Enquete-Kommission.