Presseveröffentlichung zum Thema "Aussielderfamilien"
             im Vorwärts vom März 1998
 

Aussiedlerfamilien: eine Chance für Deutschland

Rund vier Millionen Aussiedlerinnen und Aussiedler sind
seit 1950 nach Deutschland gekommen. Die SPD-Bundestag-
abgeordnete Christa Lörcher wirbt für Verständnis und
Verständigung zwischen Zugewanderten und Einheimischen.

Als Fremde kommen sie in das Land, das ihnen Heimat bedeutet. Von 1950
bis 1996 etwa 3,7 Millionen Menschen; nach 1990 wurden die Zuzüge
geringer, im Jahr 1996 waren es rund 180000 Männer und Frauen. Sie
kommen aus der ehemaligen Sowjetunion, aus Rumänien und Polen in ein
Land, in dem sie - aufgrund wirtschaftlicher und sozialer Schwierig-
keiten - eher reserviert empfangen werden. Die Menschen kommen, weil
sie "als Deutsche unter Deutschen leben wollen", weil sie im Her-
kunftsland vielfältigen Diskriminierungen ausgesetzt waren, oder sie
verlassen ihr Land aus wirtschaftlicher Not.

Ihre Alterstruktur unterscheidet sich sich bei der Einreise wesentlich
von derjenigen der einheimischen Bevölkerung: Aussiedlerfamilien haben
im Durchschnitt mehr Kinder als die Familien hier. Der Anteil der
jüngeren, 20 Jahre und darunter, ist fast doppelt so hoch, der Anteil
der 45jährigen und Älteren liegt etwa halb so hoch wie bei der übrigen
deutschen Bevölkerung. Dies ändert sich, wenn die Familien einige
Jahre in Deutschland wohnen; die Geburtenzahlen der Zugewanderten
nähern sich denen der einheimischen Bevölkerung innerhalb einer
Generation an.

Vor allem als Wählerpotential waren die "Rußlanddeutschen" bisher
interessant für die konservativen Parteien: bei einer Wahlbeteiligung
von rung 90 Prozent in dieser Gruppe konnten sie mit einer hohen
Akzeptanz, fast drei Viertel der Wählerinnen und Wählern, rechnen.
Diese Akzeptanz ist seit längerem ins Wanken geraten: weniger Mittel
für Sprachkurse und Integration, Erschwerungen bei den Sprachtests im
Herkunftsland, die Verlängerung des Wohnortzuweisungsgesetztes bis in
das Jahr 2000 - dies alles wird aufmerksam und kritisch von den be-
troffenen Menschen zur Kenntnis genommen. Dem Aussiedlerbeauftragten
der Union, Horst Waffenschmidt, ist dieser Stimmungswandel nicht ent-
gangen. Die Aussiedlerzeitung Ost-Expreß formuliert es recht deutlich:
"[...] es ist offensichtlich, daß bald ein Vertreter der Opposition
Kanzler Deutschlands wird. Die Zeit von Helmut Kohl ist vorbei. Danke,
daß er uns aufgenommen hat. Doch die 4,5 Millionen Arbeitslosen wird
man ihm nicht verzeihen. Wir sind ziemlich unpopulär geworden, man hat
uns zu Sündenböcken gemacht." Bei der Union schrillen die Alarm-
glocken, schließlich werden, so die Schätzungen, etwa eine Million
Aussiedler das erste Mal im September den Bundestag mitwählen. Wähler,
mit denen die CDU fest gerechnet hat.

Gerade junge Aussiedlerinnen und Aussiedler sehen sich in der
Situation, dier unwillkommen zu sein - sie haben wenig Chancen, kaum
eine Perspektive. Integrationsmaßnahmen wurden drastisch gekürzt,
Ausbildungsplätze sind Mangelware; Perspektivlosigkeitund zunehmende
Kriminalität in dieser Gruppe von Jugendlichen wurden vor kurzem in
einer Studie aus Niedersachsen festgestellt.

"Mangelnde Deutschkenntnisse", so die SPD-Bundestagsabgeordnete
Christa Lörcher, "sind nicht nur von Nachteil bei der schulischen und
beruflichen Eingliederung, sie sind auch hinderlich für eine erfolg-
reiche soziale Integration." Die Folge: Aussiedler bleiben unter sich.
Rund 70 Prozent der Jugendlichen wünschen sich mehr Kontakte zu ein-
heimischen Gleichaltrigen - fehlende Sprachkenntnisse stehen diesem
Wunsch oft im Weg. Ebenso sind für die Integration in Beruf und Alltag
Deutschkenntnisse als Schlüsselkompetenz entscheident; jedes Jahr von
neuem beantragt die SPD bei den Haushaltsberatungen im Ausschuß zu-
mindest gleichbleibende Mittel für die Sprachförderung der hierher
Kommenden wie auch für die Begleitung und Fortbildung von Betreuungs-
und Lehrkräften, jedes Jahr von neuem wird dies von der Mehrheit im
Ausschuß abgelehnt.

Neben der Herausforderung einer neuen Sprache fordert das neue Land
mit einem völlig anderen Gesellschaftssystem den Neuankömmlingen eine
hohe Flexibilität ab. Kinder und Jugendliche treffen hier auf weit-
gehend unbekannte Werte und Verhaltensweisen; Demokratie lernen waren
sie nicht gewöhnt. Aussiedlerinnen und Aussiedler kommen aus einem
System, bei dem der gesellschaftliche Nutzen und das Kollektiv im
Vordergrund standen, und werden nun mit einem System konfrontiert, in
dem Eigenverantwortung und die individuelle Leistung betont werden -
das macht nicht wenigen Kindern und Jugendlichen zu schaffen. "Viele
haben Heimweh, manche möchten wieder zurück", hört die
SPD-Migrantenexpertin Christa Lörcher immer wieder in Gesprächen mit
den Betroffenen.

Christa Lörcher betont die Chancen der Zuwanderung für die bundes-
republikanische Gesellschaft, und Berechnungen des "Instituts der
Deutschen Wirtschaft" geben der Sozialdemokratin recht. Nicht nur für
die gesetzliche Krankeversicherung, sondern auch für die Haushalte
von Bund, Ländern und Gemeinden ergaben sich Gewinne in Milliarden-
höhe durch die Aussiedler-Zuwanderung. Damit Aussiedlerinnen und
Aussiedler nicht nur finanzpolitisch einen Gewinn für unsere
Gesellschaft sind, sondern sich mit all ihren Fähigkeiten und
Fertigkeiten einbringen können, müssen wir die Sprachlosigkeit
überwinden, Verstehen und Zusammenarbeit stärken. "Dann", so
Christa Lörcher, "sind Aussiedlerinnen und Aussiedler, gerade auch
die Kinder und Jugendlichen unter ihnen, eine große Bereicherung für
unsere Demokratie."
(TUB)


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